Ullrich Sierau | Dortmund, Germany

Eure Heiligkeit,

sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen in Europa,

meine Damen und Herren,

vielen Dank an die Päpstliche Akademie der Wissenschaften für die Initiative zu diesem Gipfeltreffen unter dem Motto „Europa: Flüchtlinge sind unsere Brüder und Schwestern“.

Ebenso danke ich für die Einladung als Oberbürgermeister der Stadt Dortmund.

Wenn Sie 2015 im September die Bilder in den Medien gesehen haben, als die Flüchtlinge an deutschen Bahnhöfen mit Applaus und Willkommen-Schildern empfangen wurden, so war auch unsere Stadt dabei, denn als sogenannte „Drehscheibe“ waren wir auch in Dortmund für ihre Erstaufnahme in Deutschland aktiv.

Mehrere tausend Flüchtlinge kamen in jenem September in Dortmund an, nachdem sie in Ungarn als unerwünscht abgeschoben worden waren und über Österreich nach München kamen.

Sie wurden bei uns mit beispiellosem Einsatz von Behörden und Freiwilligen empfangen und diese Willkommenskultur ist bezeichnend für Dortmund und seine Einwohnerinnen und Einwohner.

Meine Damen und Herren,

Dortmund ist mit über 600.000 Einwohnern die achtgrößte Stadt in Deutschland.

Als über elfhundert Jahre alte Hansestadt mit weitreichenden Handelsbeziehungen liegen wir seit Jahrhunderten in einem wichtigen Wegekreuz Europas.

Zuwanderung hat somit eine lange Tradition in unserer Stadt.

Dies gilt insbesondere seit der Zeit der Industrialisierung, als Menschen aus ganz Europa zu uns kamen, um Arbeit in einer unserer 120 Zechen oder in einem unserer Stahlwerke zu finden.

Aufgrund unserer Historie und durch die Kultur des Bergbaus war Dortmund schon immer eine inter-nationale und soziale Stadt, in der Solidarität groß geschrieben wurde.

Aktuell hat jeder Dritte Dortmunder, also etwa 200.000, einen Migrationshintergrund; Menschen aus 180 Nationen leben in unserer Stadt zusammen.

Wir sind heute eine Stadt der Wissenschaft, der Hoch-technologie und der Dienstleistungen.

Spätestens seit Lampedusa im Februar 2011, als dort die Zahl der Bootsflüchtlinge wie auch der Todesopfer dramatisch anstieg, wusste Europa, was kommt.

Aber Europa wollte nicht hinsehen und hat auf die Dublin-II-Verordnung verwiesen.

Der Papst hat mit seiner ersten Reise nach Amtsantritt (13.3.2013) als Kirchenoberhaupt nach Lampedusa im Juli 2013 ein wichtiges Signal gesetzt und vor Ort zur Solidarität mit den Hilfesuchenden aufgerufen.

Das Flüchtlingsthema ist nicht vom Himmel gefallen.

Es ist das Resultat der kontinuierlichen Ausbeutung des Südens durch den Norden. Darauf sind letztlich alle heutigen globalen Krisen, die mit Krieg, Verfolgung, Armut und Flucht zu tun haben, zurück zu führen.

Diese Erkenntnis war vor ca. 40 Jahren Ergebnis der sogenannten Nord-Süd-Kommission unter dem Vorsitz von Willy Brandt.

Als ehemaliger deutscher Bundeskanzler und Friedensnobelpreisträger entwarf Brandt, mit Unterstützung des schwedischen Ministerpräsidenten Olof Palme und des österreichischen Kanzlers Bruno Kreisky, Entwicklungsstrategien für solidarisches globales Handeln.

Als Voraussetzung für einen wahren globalen Frieden benannte Willy Brandt die Bekämpfung von Armut.

Deshalb plädierte er für die Schaffung einer gerechteren neuen Weltwirtschaftsordnung, um den armen Ländern mehr Entwicklungschancen zu geben.

Für Willy Brandt war das „Nord-Süd-Problem“ die entscheidende Frage des 20. Jahrhunderts.

Er sollte Recht behalten!

Denn diese Frage zieht sich eindringlicher denn je ins 21. Jahrhundert hinein, wie die aktuelle Flüchtlingskrise zeigt.

Europa entwickelt sich zur Festung und wir müssen daraus drei Schlüsse ziehen:

1.) wir müssen die Fluchtursachen bekämpfen, das heißt: die Ausbeutung des Südens und seiner Ressourcen durch den Norden muss gestoppt werden
2.) Europa darf keine Festung werden. Wir müssen Menschen auf der Flucht gerecht verteilt aufnehmen. Es kann nicht sein, dass diese Aufgabe an Deutschland und Schweden hängt, während sich Länder wie Italien, Frankreich, England und Ungarn dieser Aufgabe entziehen
3.) wir müssen die Flüchtlinge betreuen und integrieren, um sie mit Bildung und neuen Fähigkeiten auszustatten. So bringen sie bei Rückkehr in ihre Heimat etwas mit und können beim Aufbau und der Entwicklung ihres Landes helfen. Damit schaffen wir wirkungsvolle Zukunftsperspektiven.

Was tun wir in unserer Stadt für die Umsetzung dieser Ziele?

Zur Zeit bewegt sich die Zahl der Flüchtlinge, die in Dortmund untergebracht sind, um die 9.000. Das sind über 1,5 % der Bevölkerung Dortmunds.

Nachdem wir im letzten Jahr als Drehscheibe eine zentrale Rolle in der Flüchtlingskrise übernommen haben, verfügt Dortmund immer noch über eine Erstaufnahmeeinrichtung.

Zugleich werden die kommunal zugewiesenen Flüchtlinge nach einem dezentralen Konzept in der Stadt untergebracht – nicht in Lagern und nur begrenzt in zentralen Unterkünften.


(Aufgrund der hohen Zahl der Flüchtlinge im zweiten Halbjahr 2015 mussten wir in kurzer Zeit eine Reihe von Unterbringungseinrichtungen schaffen.

Inzwischen verfügen wir neben einer zentralen Einrichtung über 19 weitere Übergangseinrichtungen und nutzen dazu leerstehende Gebäude, Container, Traglufthallen und Schiffe.)

 

Nur mit der räumlichen Unterbringung ist es natürlich nicht getan, denn die eigentliche Arbeit liegt in der weiteren Integration.

Die Betreuung der Flüchtlinge teilt sich auf in die Bereiche Spracherwerb, Gesundheitsvorsorge – dazu zählt auch die psychosoziale Versorgung -, Integration in den Arbeitsmarkt und Bildung. 

Die Strukturen, die wir innerhalb eines kurzen Zeitraumes schaffen mussten, um diese großen Aufgaben zu bewältigen, würden nicht funktionieren ohne die enge Zusammenarbeit mit Partnern aus der Wohlfahrtspflege, den Kirchen, aber insbesondere nicht ohne die ehrenamtlichen Helferinnen und Helfern.

Es gibt in unserer Stadt viele Menschen mit einer hohen Bereitschaft, den Flüchtlingen zu helfen und auf dieses außerordentliche Engagement bin ich sehr stolz.

Dieses Engagement äußert sich zum Beispiel in der Übernahme von Patenschaften, in deren Rahmen Flüchtlinge im Alltag begleitet werden.

Es wurden Vereine gegründet, um Flüchtlingen zu helfen; bestehende Vereine, zum Beispiel Sportvereine, bieten Flüchtlingen Gelegenheiten zum Sport oder zur Teilnahme an kulturellen Ereignissen.

Die Hilfsbereitschaft ist weiterhin überwältigend.

Dennoch ist und bleibt die Aufnahme und Integration einer solch großen Zahl von Flüchtlingen eine große Aufgabe und eine starke Belastung für eine Stadt, die selbst mit sozialen Problemen und hoher Arbeitslosigkeit zu kämpfen hat.

Dazu benötigen wir dringend zusätzliche finanzielle Mittel.

Als Kommune fühlen wir uns mit dieser gewaltigen Aufgabe ziemlich allein gelassen.

Auch die EU muss aktiv werden, denn die Betreuung und Integration der Flüchtlinge liegt nicht nur in der Verantwortung der Kommunen.

Ich begrüße es sehr, dass die Päpstliche Akademie der Wissenschaften dieses Gipfeltreffen der europäischen Bürgermeisterinnen und Bürgermeister ermöglicht hat und uns so die Gelegenheit zu einem Austausch gibt.

Wir können diese große Herausforderung nur gemeinsam meistern und ich wünsche uns und Europa, dass wir gemeinsam tragfähige Lösungen finden - zum Wohle der Menschen in unseren Städten und vor allem zum Wohle der zahlreichen Menschen auf der Flucht.