Gunter Czisch | Ulm, Deutschland

Sehr geehrte Bürgermeisterkolleginnen und -kollegen!

Kommunalpolitik ist das Fundament der politischen Kultur - dieser Satz der deutschen Botschafterin am Heiligen Stuhl, Annette Schavan, könnte auch als Motto über diesem Treffen stehen. Die Kommunen, die Städte, das sind die Orte, an denen die Demokratie zuerst "erfunden" wurde. Demokratische Strukturen haben in den Städten eine viel längere Tradition als in den Nationalstaaten. Städte sind die „Wiege“ der Demokratie. Und sie sind bis heute „Schulen“ der Demokratie. Ich denke daher, dass es gut und richtig, ja dass es höchste Zeit ist, dass wir uns als europäische Städte gemeinsam äußern und Stellung beziehen zu einer der größten humanitären Katastrophen, die sich derzeit abspielen.

Ich danke den Bürgermeisterinnen von Barcelona, von Madrid und von Paris dafür, dass sie die Initiative ergriffen haben, und der Päpstlichen Akademie, dass sie diesem Treffen eine Plattform bietet. Dank an die Initiatoren auch dafür, dass ich heute als Vertreter einer der kleineren Kommunen in diesem Kreis die Gelegenheit habe, das Wort zu ergreifen.

Nicht alle von Ihnen werden Ulm kennen, darum möchte ich die Stadt kurz beschreiben: Ulm liegt in Baden-Württemberg, in Süddeutschland, hat 120.000 Einwohner (rund 38 Prozent von ihnen haben internationale Wurzeln), eine Universität, zwei Hochschulen und ist Zentrum der Region Oberschwaben. Wichtig für das Selbstverständnis der Ulmer Bürgerschaft ist auch, dass Ulm über Jahrhunderte Freie Reichsstadt war. Dieses städtische Selbstbewusstsein manifestiert sich auch im Ulmer Münster, das vor allem eine Bürgerkirche ist - und (nebenbei) die Kirche mit dem -bis heute- höchsten Kirchturm der Welt.

Wir verfügen aktuell über 91.000 Arbeitsplätze, die Arbeitslosenquote liegt derzeit bei knapp über 4 Prozent. In Städterankings belegt Ulm regelmäßig vordere Plätze. Jüngster Erfolg ist Ulms Platz unter den besten Zehn im Zukunftsranking deutscher Städte. Diese Prosperität erleichtert es uns natürlich, den Menschen, die zu uns kommen, weil sie Schutz vor Krieg und Verfolgung suchen, angemessen zu helfen. 1.600 Männer, Frauen und Kinder leben derzeit als Flüchtlinge in unserer Stadt.

Ulm ist Geburtsort von Albert Einstein, und diese Tatsache ist der Stadt Verpflichtung und Ansporn zugleich, ebenso wie die Tatsache, dass wir seit langem intensive Kontakte mit den Städten und Regionen entlang der Donau pflegen – auch und gerade in schwierigen Zeiten, in denen der Dialog mühsam, dafür aber umso notwendiger ist, damit wir uns weiter aufeinander zubewegen –und sei es auch nur in kleinen Schritten. Wir verstehen uns als eine liberale, weltoffene und tolerante Stadt mit einer wachen Zivilgesellschaft – aber auch wir müssen dafür immer wieder ringen und werben.

Unser Europa ist nicht nur ein großes Landkartengebilde. Unser Europa ist vor allem eine Idee: Die Idee, dass Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und die Achtung der Menschenrechte sowie ein würdiges, sozial gesichertes Leben nicht allein durch einzelne Nationalstaaten, sondern nur gemeinsam erreicht werden können. Heute ist diese Idee bedroht, weil Angst vor Globalisierung, Überfremdung, Furcht vor dem Verlust materieller Sicherheiten stärker, sogar übermächtig werden. Angst aber begünstigt Isolationalismus, Abschottung, den Rückzug in den vermeintlich sicheren Hafen. Angst baut Mauern, keine Brücken.

Ich dagegen bin überzeugt: Ein geeintes, ein einiges Europa ist und bleibt unsere einzige Perspektive auch für die Zukunft. Und der einzige Weg, auf dem es gelingt, so gewaltige Probleme wie Massenmigration und Klimawandel in den Griff zu bekommen. Machen wir uns aber nichts vor: Ein Europa "top down", ein Europa, das von Eliten "verordnet" ist, wird es nicht (mehr) geben. Darum liegt es auch an uns - damit meine ich wirklich uns hier!- ob es gelingt, ein "Europa bottom up" neu zu erfinden. Denn wir haben die Expertise vor Ort, wir sind nah dran an unseren Bürgerinnen und Bürgern, wir gehen in Bürgerversammlungen, wir sprechen mit den Leuten, hören ihre Sorgen direkt und unvermittelt! Seien wir in als Kommunen Vorbilder, Vorbilder als Arbeitgeber, als Verbraucher, als Anbieter von Dienstleistungen. Und wer sollte überzeugen und Glaubwürdigkeit vermitteln, wenn nicht wir?

Wir leben in einer Wendezeit. Das wurde schon oft gesagt und mag lapidar klingen, ist aber doch existenziell. Wendezeiten machen sich an Ereignissen fest. Die aktuelle Wendezeit hat wieder, aber doch auch ganz anders als 1989, mit der Öffnung von Grenzen zu tun. Hunderttausende von Flüchtlingen sind gekommen und weitere werden noch kommen -sobald sich ihnen eine Chance dafür bietet (und sei diese Chance noch so gering und gefährlich). Wir werden uns von der Illusion verabschieden müssen, dass sich die Flüchtlingsbewegungen durch Meere und Zäune aufhalten lassen. Nur wenn wir das anerkennen, können wir gestalten.

Wir werden im Sinne der päpstlichen Enzyklika „Laudato Si“ auf allen politischen Ebenen das Problem des Klimawandels als ein Problem der Bekämpfung der Armut begreifen und darauf eingehen müssen; andernfalls sind die gegenwärtigen Flüchtlingsbewegungen nur Vorboten von Bewegungen ganz anderer Dimension. Engagieren wir uns daher auch in den Städten für einen ökologischen Umgang mit Ressourcen und fairen Handel: Der European Energy Award, die Solarbundesliga, das Siegel FairTrade Town sind nur einige Beispiel dafür, wie Ulm sich engagiert. Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegen, können sicherlich auch Beispiele aus iIhrem Heimatstädten nennen. Sicher, unsere Schritte sind klein, wenn wir einen globalen Maßstab anlegen, aber es sind Schritte.

In Ulm haben wir 2012 bewußt ein Bekenntnis zu Ulm als einer internationalen Stadt abgelegt. In einem Konzept haben wir festgehalten, was dazu zu tun ist, damit „Ulm Heimat für alle“ werden kann. Uns war klar: Es ist eine der großen gesellschaftlichen Herausforderungen, in unserer Stadt das Zusammenleben von Menschen mit unterschiedlichen kulturellen, religiösen und gesellschaftlichen Prägungen friedlich und unter Wahrung gleicher Teilhabechancen für alle zu gestalten. Damals ahnten wir nicht, wie groß die Herausforderung werden würde.

Heute sehen wir, dass die Begegnung mit Menschen aus fremden Kulturen uns zwar bereichert, aber nicht nur, sondern auch zu massiven Konflikten und Konfrontationen führt, Konflikte, für die deren Lösung es keine Patentrezepte gibt - sonst würden wir sie längst anwenden. Und wir werden uns auch mit den Konflikten befassen müssen, die die neu Hinzugekommenen untereinander haben.

Aber wir haben, wenn wir es klug anstellen, mächtige Verbündete: unsere Bürgerinnen und Bürger, die schon heute in Vereinen und Organisationen aktiv sind, die als Freiwillige und Ehrenamtliche Großartiges leisten. Wir müssen dafür sorgen, dass ihr Engagement gewürdigt wird, wir müssen sie ermutigen und unterstützen, denn sie und ihr Einsatz sind der „Kitt“, der unsere Stadtgesellschaft zusammenhält. Vereine sind „ Meister der Integration“. Nutzen wir diese Stärke, wenn es darum geht, Menschen aus anderen Kulturkreisen bei uns heimisch zu machen – nicht bei allen wird es gelingen, aber hoffentlich bei sehr vielen.

Bisher hat die Flüchtlingskrise in unserer Stadt gezeigt: Das Thema polarisiert, aber es hat -nicht nur in Ulm- auch eine Hilfsbereitschaft ausgelöst hat, die uns alle überrascht hat. Einen ganz wichtigen Mitspieler auf unserer Seite habe ich noch nicht genannt: die Kirchen und Religionsgemeinschaften. Im Ulmer Rat der Religionen hhaben sich Ulmerinnen und Ulmer aus christlichen, jüdischen und islamischen Gemeinden zusammengeschlossen, um eng gemeinschaftlich zu arbeiten. Sie sind für die Stadt zu unschätzbaren Multiplikatoren geworden.

Hüten wir uns jetzt und in Zukunft aber vor Ignoranz, Arroganz und moralischer Überheblichkeit: Auch in unseren Stadtgesellschaften gibt es Menschen, denen es nicht so gut geht, die zwar jedem Flüchtling ein Dach über dem Kopf gönnen, die aber zugleich das Gefühl haben, sie selbst kämen zu kurz, sie seien die „Abgehängten“. Und die (teilweise zu Recht) fragen: Und wo bleiben wir?

Dies allein mit „Sozialneid“ abzutun, greift meines Erachtens zu kurz und spielt Radikalisierern in die Hände. Solidarität kann nicht nur einseitig eingefordert werden. Solidarität heißt auch: Starke können mehr schultern als Schwache, aber wir müssen wirklich alle daran beteiligen. Das beginnt bei Kindergartengebühren und geht bis zur Verteilung von Flüchtlingsunterkünften über das gesamte Stadtgebiet. Nicht polarisieren, sondern versuchen, alle einzubinden.

Wir brauchen Solidarität mit den Geflüchteten, aber auch Solidarität mit denen, die fürchten, abgehängt zu werden. Praktisch heißt das für uns: Die Neubauten, die unsere städtische Wohnbaugesellschaft für Flüchtlinge zur Anschlussunterbringung errichtet, können auch von einheimischen Bedürftigen bezogen werden. Wir haben entschieden: Flüchtlingsunterkünfte werden im ganzen Stadtgebiet angemietet oder gebaut. Wenn die Konditionen stimmen, auch in einer Villengegend, wo beispielsweise die Caritas ein großes, von ihr nicht länger benötigtes Gebäude zu diesem Zweck an die Stadt veräußert hat. Eine menschenwürdige Unterbringung, verteilt auf alle Stadtteile und Ortschaften, so dass der soziale Frieden in der Stadt gewahrt bleibt – das ist unser Ziel, daran arbeiten wir.

Die Unterbringung und Betreuung der mehr als 1.600 Flüchtlinge ist eine große Herausforderung. Aber ein Dach über dem Kopf reicht nicht. Darum erfüllen wir nicht nur die gesetzlichen Anforderungen, wir tun mehr, denn wir sind überzeugt, dass es zur Integration mehr braucht. In den letzten Monaten haben wir vieles erreicht, was den Interessen der Migranten, aber auch den Interessen der Ulmerinnen und Ulmer Rechnung trägt: Menschen, die eine Bleibeperspektive haben, wollen wir zügig das Handwerkszeug an die Hand geben, dass sie sich integrieren können: durch Sprachkurse, durch die Vermittlung unserer Alltagsregeln, durch schulische Förderung und berufliche Ausbildung. Das erfordert einen langen Atem.

Die Flüchtlingskrise hat viele unterschiedliche Gesichter. Es geht um Chancen und Hoffnungen, aber auch um falsche Erwartungen und unerfüllbare Ansprüche. Es ist nicht zu leugnen: Die Flüchtlingskrise hat viele Bürgerinnen und Bürger tief verunsichert. Sie hat bei ihnen Zweifel an der Handlungsfähigkeit der Politik geweckt. Die Politik, und da beziehe ich uns mit ein, hat einen klaren Auftrag: Nämlich alles zu tun, damit die Integration derjenigen, die dauerhaft in unserem Land bleiben werden, dieses Mal gelingt.

Aber dazu müssen wir auch den Flüchtlingen unmissverständlich klarmachen, dass Integration keine einseitige Sache ist. Der Silvesterabend in Köln hat gezeigt, dass einige Flüchtlinge das „freundliche Gesicht“ unseres Landes gründlich missverstanden haben. Wir werden den Rechtsstaat und sein Gewaltmonopol stärken und durchsetzen müssen, da beide von innen und von außen neu in Frage frage gestellt werden.- Auch wenn dies von manchen nicht gern gehört wird.

Nulltoleranz gegenüber jeder Gewalt gilt für alle in unserem Land. Genauso wenden wir uns gegen dumpfen Nationalismus und plumpe Fremdenfeindlichkeit, die den Boden für Brandstifter bereiten.

Was können wir in Ulm, was können wir auf kommunaler Ebene tun? Das beeindruckende Engagement, die vielen Möglichkeiten der Begegnung wie internationalen Festen, unser Anspruch, internationale Städte zu sein: Viele kleine Schritte, die aber zeigen:

Wir sind eine solidarische Stadt, in der die Grundregeln unserer Gesellschaft respektiert werden, in der jeder einzelne seinenPlatz finden kann. Wir bleiben unserem Anspruch treu: Ulm ist Heimat für alle.